Meine Ausbildung zur Kindergärtnerin erhielt ich im Kindergärtnerinnen- und Hortnerinnenseminar der Stadt Dortmund von Ostern 1939 - 1941. Darauf folgte ein einjähriges Praktikum in der Tagesstätte des Fröbelseminars Kassel.
Die NSV (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt), die auch zwischenzeitlich das Seminar in Kassel übernommen hatte, schickte mich im April 1942 nach Soest, wo die Kreisamtsleitung mir als erste Aufgabe den Aufbau und die Leitung des jährlichen Meiningser Erntekindergartens zuteilte. Ich war damals 21 Jahre alt und es war meine erste Stelle mit eigener Leitung.
Erntekindergärten wurden jeweils von April bis Ende September eingerichtet, um die sommerlichen landwirtschaftlichen Arbeiten zu unterstützen. Reguläre Ganzjahreskindergärten gab es auf den Dörfern damals nicht.
Während sich die Meiningser ein Erntekindergarten wünschten, gestaltete sich meine Unterbringung in Meiningsen als Problem - keiner wollte eine "fremde Kindergärtnerin" aufnehmen. Der damalige Ortsamtsleiter und spätere langjährige Meiningser Bürgermeister Karl Böhmer (1902-1976) versuchte mich in dem kleinen Siedlungshaus am Riskenweg (Ecke Wasserweg) einzuquartieren, jedoch hatte man dort Vorbehalte. So entschloß sich Herr Böhmer, mich in seinem Haus aufzunehmen. Weil kein Platz war, mußte ich ein Zimmer mit seiner damals etwa 12jährigen Tochter Marianne (geb. 1931, heute Schulzdrees in Lühringsen, † 2017) teilen.
Der Erntekindergarten wurde in einem Gebäude in Meiningsen abgehalten, das heute nicht mehr existiert. Es stand als Anbau rechts neben dem Fachwerkhaus, das im vorigen Jahrhundert als Schule diente (schräg rechts gegenüber dem heutigen Gemeindehaus). Der Kindergarten bestand aus einem einzigen großen Raum - ob es Toiletten gab, weiß ich nicht mehr - muß es aber eigentlich gegeben haben. Fließend Wasser gab es. Benötigte ich heißes Wasser, mußte ich es mir vom Hof Böhmer in einer Kanne holen.
Zuerst hatte ich keinerlei Hilfe. Durch die Nichtnutzung im Winter war der Zustand des Raums dementsprechend schlecht. Herr Böhmer beschaffte Kalk und ich strich die Wände. Sämtliche Fenster (sechs oder sieben) wurden von mir geputzt.
Von Soest wurden mir erst Helferinnen zugeteilt als die Kinder kamen. An einige Namen kann ich mich noch erinnern: z. B. Ernstchen Baule, Sieglinde Berger, Erni Brauks, Heinz-O. Horstmann, Ida Jakubeit, Doris Kniewel, Giesela Kniewel, Dieter Lappe, Erika Müller, Ursula Schneider, Elfriede Schulze. Die Kinder kamen nicht nur aus Meiningsen, sondern auch aus Meiningserbauer und Epsingsen, immer zu Fuß und oft allein.
Ein herausragendes Ereignis des Jahres war die Organisation eines Kinderschützenfestes, das mir aufgetragen wurde. Durch die hilfreiche Unterstützung der Leiterin des Amper Kindergartens Frau Nossek wurde in der damaligen (kleineren) Schützenhalle und wegen des besonders schönen Wetters im Freien ein wunderbares Fest gefeiert. Frau Nossek hatte ich zuvor auf gemeinsamen Veranstaltungen in Soest und Ampen getroffen. Der Ort war in bescheidenem Rahmen geschmückt und die Kinder trugen aus Papier gefaltete Helme. Wir veranstalteten Spiele, z. B. Sackhüpfen und Eierlaufen. Frau Nossek brachte aus Ampen ein komplettes Kasperletheater mit, was den Kindern besonderen Spaß bereitete. Die Mütter versorgten Kinder, Eltern, Großeltern, Onkel und Tanten mit Kuchen, Torten, Kaffee und anderen Getränken. Ich kann mich noch heute an die hervorragende Backkunst der Meiningser, Meiningserbauer und Epsinger Frauen erinnern, die mich begeisterte.
Durch regelmäßige "Besuche" wurde die NSV gewahr, daß mein Meiningser Erntekindergarten "immer in Ordnung war". So hatte ich das Glück - es gab immerhin 24 weitere Erntekindergärten im Kreis Soest - ab Herbst 1942 den NSV-Kindergarten in der Immermannstraße in Soest zu übernehmen. Einen weiteren gab es am Nöttentor, einen anderen am Jakobitor.
Ich wollte mir deshalb eine Wohnung in Soest suchen. Mittlerweile war ein derartig herzliches Verhältnis zwischen mir und Böhmers entstanden, daß sie mich überredeten, doch lieber in Meiningsen zu bleiben. So wohnte ich bis zum Kriegsende in Meiningsen. Dort hatte ich gut zu essen und auch die nächtlichen Bombenangriffe blieben mir erspart.
In der ersten Zeit verkehrte noch der Bus zwischen Meiningsen und Soest, einige Male fuhr ich auch mit der Kleinbahn nach Ampen und ging von dort zu Fuß nach Meiningsen. Später - Ende 1944 - als der Bus nicht mehr verkehrte, fuhr ich mit dem Dienstfahrrad der Fürsorgerin, das abends und nachts nicht benötigt wurde. Allerdings wurde eines Tages das Fahrrad in Soest gestohlen. Ganz zum Schluß, in den letzten Kriegsmonaten, mußte ich jeden Tag zu Fuß nach Soest und zurück gehen. Mein Dienst ging täglich bis 19 Uhr. Verpflegt wurde ich durch Böhmers. Frau Linnhoff - die Mutter von Frau Böhmer - machte mir täglich Brote und versorgte mich mit Obst.
Auch samstags hatte ich Dienst bis 12 Uhr, fuhr aber anschließend fast immer nach Huckarde. Bei dieser Gelegenheit brachte ich meinen Eltern dringend benötigte Nahrungsmittel mit. Als zum Schluß der Bus nicht mehr fuhr, mußte ich das alles von Meiningsen zu Fuß zum Bahnhof schaffen - meinen Koffer und die Lebensmittel einschließlich einer großen Kanne Milch!
Der Kindergartendienst in Soest fand im Laufe des Jahres 1944 immer häufiger im Bunker statt. Wir hatten dort einen Raum für uns. Später wurde der Kindergarten ausgebombt.
1944
Max Schulze-Sölde (1887-1967): "Das brennende Soest in der Nacht vom 6. Dezember 1944", Öl auf Holz. Das Gemälde befindet sich im Burghofmuseum Soest. Ich erinnere mich, daß ich mit Max Schulze-Sölde, der in Günne wohnte, hin und wieder gemeinsam im Bus gefahren bin. Die Ansicht im Bild könnte die von Meiningsen aus sein.
Nun wurde ich von der Kreisamtsleitung wieder in Meiningsen eingesetzt. In der neuen Schule (im heutigen Gemeindehaus) waren Leute aus dem Ruhrgebiet untergebracht - in Meiningsen fand zu der Zeit kein Schulbetrieb statt. Ich mußte mit einem Kriegsgefangenen als Fahrer von Ampen täglich Essen holen. Wenn wir unterwegs durch Tiefflieger überrascht wurden, sorgte sich dieser sehr nette französische Feldwebel sehr um mich und befahl: "Frau 'ane, runter, unter'n Wagen!". Er selbst blieb neben dem Pferd stehen und meinte wohl, ihm könne nichts passieren.
Böhmers hatten drei Kriegsgefangene, einen Franzosen, einen Russen und einen Polen, die in dem Anbau mit der Waschküche untergebracht waren. Diese wurden immer sehr gut behandelt. Weil Herr Böhmer sein Schulfranzösisch auffrischen wollte, hatte der französische Kriegsgefangene keinerlei Chance, deutsch zu lernen. Herr Böhmer nutzte jede Möglichkeit, eine französische Unterhaltung zu führen. Einmal kam das "Dienstmädchen" Frieda Witt in die Küche und konnte sich gar nicht mehr halten vor Lachen: Sie hatte den Russen auf dem Klo hoch auf dem Sitzrand stehend und zielgenau sein Geschäft verrichtend angetroffen.
Mein Vater Heinrich Hahne besuchte mich in Meiningsen. Karl Böhmer wußte, daß er als Steiger in der Zeche Hansa in Dortmund Huckarde beschäftigt war. Herr Böhmer hatte den großen Wunsch, einmal eine Zeche zu besichtigen. Er und Frau Böhmer machten deshalb eines Tages einen Gegenbesuch in Huckarde und so fuhren Herr Böhmer, mein Vater und ich in die Grube ein. Herr Böhmer war tief beeindruckt von der Grubenbesichtigung und von der schweren Arbeit der Bergleute. Er äußerte, er wolle als Bauer lieber von morgens 4 Uhr bis zur Dunkelheit schwere Feldarbeit leisten, als die Tätigkeit eines Bergmanns ausüben.
Während der letzten Kriegsmonaten wurden auf dem Hof Böhmer immer mehr Flüchtlinge - z. B. ein Lehrer aus dem Industriegebiet und zwei Mädchen aus dem Rheinland - einquartiert. "Herr Böhmer konnte nicht nein sagen". Das bedeutete für alle, in sehr beengten Verhältnissen zu leben.
Erinnern kann ich mich an die Nacht der Möhnebombardierung in der Nacht vom 16. auf den 17. Mai 1943. Wir standen auf dem Hof und beobachteten die extrem niedrig fliegenden Maschinen. Herr Böhmer meinte, sie flögen einen Angriff auf die Möhnetalsperre. Am nächsten Tag bestätigte sich diese schlimme Vorahnung.
Eines Tages kamen SS-Leute nach Meiningsen und führten russische Zwangsarbeiter aus dem Ruhrgebiet zurück. Sie quartierten sich auf dem Hof Böhmer ein. Die SS behandelte diese Zwangsarbeiter sehr schlecht. Sie bekamen fast nichts zu essen und waren deshalb in einem erbärmlichen Zustand. Die SS-Leute nahmen den Russen die Fettrationen weg und zwangen Frau Linnhoff einen Kuchen für sie selbst zu backen, was sie nur unter Tränen tat. Statt dessen wurde den Russen in einem Schweinetopf ein "menschenverachtender" Runkelbrei gekocht. Als sie nach ein paar Tagen weiterzogen, wurde einer der völlig entkräfteten Russen, der am Wasserspeicher in Richtung Soest nicht mehr weiterkonnte, von der SS brutal erschossen. Ein SS-Mann kam zurück und zwang Herrn Böhmer, mit einem Wagen den Toten zu holen, was er unter Tränen tat. Der Tote müßte eigentlich auf dem Meiningser Friedhof begraben sein.
Als für Soest April 1945 der Krieg zu Ende gegangen war, quartierten sich in Meiningsen Amerikaner (alliierte Kräfte des Ruhrkessels) ein, die von hier aus für ein paar Tage ihre Artillerie und ihre Luftabwehr in den Gärten und Feldern (im Apfelhof) aufbauten und von dort heftig Werl und die deutschen Flieger beschossen. Wir wurden alle in ein Zimmer verfrachtet, während sich die Amerikaner im ganzen Hof ausbreiteten. Tagsüber durften wir allerdings in die Küche und uns sonst bewegen. Ich habe die Amerikaner eigentlich als ganz "anständig" in Erinnerung. So saß z. B. ein etwas deutsch sprechender Amerikaner bei Böhmers in der Küche und beteuerte, er schösse nicht auf Menschen - nur in die Luft. Er zeigte mir das Bild seiner Braut.
Anschließend strömten befreite Kriegsgefangene nach Meiningsen. Daß insbesondere die während des Krieges sehr schlecht behandelten Russen kaum Rücksicht auf die Zivilbevölkerung in den Dörfern nahmen, ist nicht verwunderlich. Für ein paar Tage hatte Meiningsen das Glück, daß sich befreite Offiziere des Offlag an der Meiningser Straße in Soest hier aufhielten. Diese versuchten, eine gewisse Ordnung herzustellen und beschützten die Meiningser Einwohner vor Übergriffen der Russen.
Als die Franzosen Meiningsen verließen, wurde es gefährlich. Die Russen vertrieben alle Personen vom Haus Böhmer und quartierten sich dort ein. Sie schlachteten die Tiere und schlangen auf Grund der jahrelangen Entbehrungen alles in sich hinein. Der eine oder andere Russe muß bei dieser Gelegenheit wohl auch gestorben sein. In den Kristallschalen von Frau Böhmer sammelten sie die gemolkene Milch.
Die schlimmste Episode, an die ich mich erinnere ist die, als eine "wilde Horde" von Russen Herrn Böhmer lebendig begraben wollte. Sie holten ihn in seiner Arbeitskleidung vom Hof, zerrten ihn mit, hielten an der Hauptstraße in der Nähe des Schwarzen Feldes an und zwangen ihn ein Loch auszuheben. Frau Böhmer hat entsetzlich geschrien. Nur den drei früheren Kriegsgefangenen des Hofes Böhmer ist es zu verdanken, das es nicht so weit kam. Insbesondere der Franzose beteuerte stetig, daß Herr Böhmer ein guter Mann wäre. Die Russen ließen letztlich Herrn Böhmer laufen.
Während Böhmers bei Müllers in der Twiete unterkamen, kam ich mit anderen für die Nächte bei Brauks in der Twiete unter. Dort schlief ich auf dem Fußboden. Tagsüber irrte ich in Meiningsen umher. Ich hatte ein kleines Täschchen mit, nichts zum Wechseln und konnte mich nicht waschen. Hinter der Twiete (Richtung Schwarzes Feld) kauerte ich mich elend hin und wollte sterben. Zur Besinnung bin ich gekommen, als plötzlich eine Kugel an mir vorüberpfiff - jetzt bekam ich es doch mit der Angst um mein Leben zu tun.
Als es in diesen Tagen so schlimm wurde, überlegte nicht nur ich, ob es nicht besser wäre, Meiningsen zu verlassen. Im Januar 1943 hatte ich in Soest meinen späteren Mann Werner kennengelernt. Er hatte für den Fall - "falls alles zu Ende geht" - angeraten, bei seinen Eltern in deren Dienstwohnung an der Soester Zuckerfabrik um Quartier zu bitten. So entschloß ich mich mit anderen, z. B. Frau Eichele, einer Nichte von Böhmers aus Koblenz, die mit ihren drei Kindern auch im letzten Kriegsjahr auf dem Hof Böhmer einquartiert waren, nach Soest zu ziehen. Frau Eichele mit Ihren Kindern konnte ich bei meinen jetzigen Schwiegereltern leider nicht unterbringen, weil sie selbst auch schon Personen aufgenommen hatten. Bei einer meiner Kindergartenhelferin Marianne Stremmer in der Magazingasse sind die vier dann erst einmal untergekommen. Zu dieser Zeit - April 1945 - war der Krieg für Deutschland noch nicht zu Ende.
Nachzutragen ist, daß der ehemalige polnische Kriegsgefangene Johann, der bei Böhmers gut behandelt aber vielleicht etwas verkannt wurde, sich später erkenntlich zeigte: Als er schon längst zwecks Rückführung nach Polen in einem Sammellager einquartiert war, suchte er Böhmers auf und unterstützte sie von seiner Verpflegungsration (Schokolade u. a.).
Wie schon während des Krieges, wo sich in Meiningsen bei Böhmers alle meine Bekannten und Verwandten "einmal sattgegessen" hatten, hielten auch später ich und meine Familie immer Kontakt zum Hof Böhmer. Bei meiner Hochzeit z. B. schenkten uns Böhmers einen ganzen Liter Sahne, zu dem damaligen Zeitpunkt eine absolute Rarität von sehr großem Wert. Jahrelang ernährten wir uns von Meiningser Kartoffeln und Obst. Auch der alte Herr Linnhoff besuchte uns öfter in unserem Haus am Paradieser Weg. Er fuhr in seinem hohen Alter mit dem Fahrrad in die Stadt, ruhte sich bei uns aus und nahm eine kleine Stärkung dankbar zu sich.
Auch mein Sohn Axel hielt sich in seiner Kindheit häufig in Meiningsen auf und hat - vielleicht auch deshalb - 1988 in Meiningsen gebaut und seine Familie gegründet. 1991 haben sich dort Marie Böhmer (geb. Linnhoff, 1903-1992), Frieda Witt, Hilfe von Böhmers und ich ein Stelldichein gegeben, um alte Erinnerungen wieder aufzufrischen.
Am 12. Mai 2002 wurde im Meiningser Gästebuch ein interessanter Beitrag verfasst:
Ich bin sehr überrascht von Eurer tollen Homepage. Vor ganz langer Zeit - April-September 1943 hatte ich in Meiningsen den Erntekindergarten zu betreuen. Gewohnt habe ich in Ampen in Behrens Mühle. Macht weiter so! Ilse Winter.